Der Schlaf der Mnemosyne

Sleeping with the fishes ist ein Splitter persönlicher und kollektiver Erinnerung – ein Tagebuch, ausgesetzt am Ufer des Gargano, in der Hoffnung, dass, auch wenn der Mensch das Vergessen dem Erinnern vorzieht, dieses alte Land die Erinnerung aufnehmen und bewahren möge.

Körniger, goldener Sand umschließt einige Holzplanken, die – einer Totenbahre gleich – die Seiten eines großen Buches tragen. Auf den ersten Blick wirkt das Papier stumm, leer, ohne ein einziges Wort. Und doch treten – wenn man sich mit neugierigerem Blick nähert – Buchstaben und Wortfragmente aus der grauen Pulpe hervor: Überreste einer Erzählung, die sich nicht lesend erschließt, sondern zum Stoff der Seiten selbst wird – zur Materie, zur ununterscheidbaren Erinnerung.
Die dreiundneunzig Blätter dieses Buches wurden aus geschredderten Verwaltungs- und Gerichtsakten gewonnen – aus Papieren, die einst das Gedächtnis einer Familie, einer Gemeinschaft, eines Ortes hätten weitertragen können: eine Geschichte – nein, viele Geschichten – starrsinniger Gegenwehr gegen das Schweigen und das Vergessen.

Ein erster visueller und konzeptioneller Widerspruch versetzt die Sinne in einen Kurzschluss: Das Buch – das vom Menschen erwählte Instrument, um sich selbst in die Zukunft einzuschreiben – wird zum rätselhaften, unlesbaren Objekt. Es fehlt das älteste und widerstandsfähigste Material der Menschheit: das Wort. So wird die Erzählung still – wie die alten Steine, in die Völker ihre Zeichen schnitten – eine Erinnerung, die gedeutet, entziffert werden will. Eine formlose Masse, in der die Sinne Gefahr laufen, sich zu verfangen.

Auch der große Bucheinband, ebenfalls in traditioneller Handarbeit nach den Regeln der alten Papiermacher gefertigt, stammt aus derselben Pulpe amtlicher Papiere. Er wurde auf dem Stein eines jungsteinzeitlichen Grabes getrocknet – einem von vielen, die in den Felshöhlen an der Bucht von Zaiana entdeckt wurden.
Die Falten des Einbands folgen den Konturen jener Felsen – und so wird das Buch selbst zum Grablager für Mnemosyne.

An dieser Stelle offenbart sich ein zweiter Widerspruch:
Auf dem Einband – zu lesen wie eine Grabinschrift – stehen die Worte Sleeping with the fishes. Eine Wendung, die unweigerlich an ein kriminelles Versteckspiel erinnert – an etwas, vielleicht einen Körper, der auf dem Grund des Meeres „zum Schlafen mit den Fischen“ abgelegt wurde.
Und doch – damals wie heute – ist ein Grab nicht der Ort des Vergessens, sondern ein Mittel, Mnemosyne am Leben zu erhalten, bereit, zu erwachen und ihre Geschichten zu erzählen – jenen, die den Mut haben zuzuhören und sich zu erinnern.

Zoë Pelikan wurde in Wien geboren und lebt und arbeitet seit einigen Jahren in ihrer Wahlheimat Neapel.
Tief mit dem Süden Italiens verbunden – wo ihre Familie ein Haus hoch über der Steilküste des Gargano besitzt – pflegt die Künstlerin ein nahezu archaisches Verhältnis zu den alten Landschaften des Südens. Es zeigt sich in der Wahl der Materialien: Holz, Kupfer, Ton, Bienenwachs, Papier und das Wort – allesamt Stoffe von urtümlichem Charakter. Besonders erstaunlich ist, dass gerade das Wort – an sich immateriell – von ihr wie ein Werkstoff behandelt wird, so greifbar und bedeutungsschwer wie Holz oder Ton (Sleeping with the fishesFür Tizian – Noch).

Auch wenn sie archaische Materialien bevorzugt, untersucht die Künstlerin mit feinen, reduzierten Formen die Vergänglichkeit der Dinge (VER-) – und wie sich die menschliche Seele zu sich selbst, zur Welt, zum Geschehen und zu anderen Menschen verhält (out of touchAssenza ingombrante). Dabei zeigt sie die Spuren – wenn nicht gar die Narben –, die zwischenmenschliche Beziehungen auf der Seele eines jeden hinterlassen können.

Zoë Pelikan
Sleeping with the fishes, 2024
Papier, Schnur, Holz, Sand
180 × 70 × 40 cm, Sand variabel

Text: Armando Lamberti